Wissenschaftler fordern neues Qualitätsniveau bei klinischen Studien zur Multiplen Sklerose

Seit der Entwicklung der ersten Immuntherapie (Interferon beta-1b) im Jahr 1995 wurden zahlreiche Substanzen zur immunmodulierenden Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) zugelassen mit dem Ziel, die Zahl der Schübe zu verringern. Seitdem hat sich die Therapielandschaft erheblich erweitert. Parallel zu der zunehmenden Anzahl verfügbarer Immuntherapien haben sich die Behandlungsstrategien von einem reinen „Ansatz zur Prävention von Schüben“ zu einer auf die individuelle Situation ausgerichteten medizinischen Versorgung verlagert.

Perspektiven von Betroffenen stärker berücksichtigen

Wie können die Perspektiven der Patienten mit Multipler Sklerose (MS) bei klinischen Studien stärker berücksichtigt werden? Diese Frage hat eine Arbeitsgruppe der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersucht und entsprechende Empfehlungen entwickelt. Die Forscher analysierten systematisch 29 zulassungsrelevante Phase-III-Studien zu Arzneimitteln zur verlaufsmodifizierenden beziehungsweise immunmodulierenden Behandlung der Multiplen Sklerose. Die Auswertung zeigte, dass die Patientenperspektive und damit Symptome wie Fatigue, also Müdigkeit und erhöhte Erschöpfbarkeit, oder die gesundheitsbezogene Lebensqualität in der Regel nicht berücksichtigt wurden. Dagegen wurden biologische Indikatoren und Endpunkte zu bildgebenden Verfahren mit unklarer Bedeutung für die Krankheitsschwere der Betroffenen regelhaft untersucht.

Alle auf dem Markt befindlichen Arzneimittel wurden in überwiegend ein- bis zweijährigen Zulassungsstudien untersucht. Über diese Dauer hinaus liegen kaum methodisch fundierte Daten zum Nutzen oder zu Nebenwirkungen dieser Arzneimittel vor. „Zulassungsstudien sind aufgrund ihrer Dauer und meist kurzen Nachbeobachtung nicht geeignet, die mitunter auch sehr schweren Nebenwirkungen zu erfassen, die erst nach längerer Therapie auftreten“, erklärt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der AkdÄ. Aufgrund dieser Mängel des Designs klinischer Studien entwickelte die Arbeitsgruppe Verbesserungsvorschläge. Die Forscher schlagen vor, dass bei zukünftigen Studien zur Multiplen Sklerose (MS) mehr dem unmittelbaren Erleben der Betroffenen eine höhere Relevanz beimessen, indem patientenberichtete Endpunkte stärker in den Fokus gerückt werden. Die individualisierte Ausrichtung der medizinischen Behandlung erfordert es, dass Studien nicht nur für die Zulassung relevante klinische und radiologische Befunde berücksichtigen, sondern auch die Patientenperspektive. Dies gilt insbesondere für die sehr belastenden Symptome wie Fatigue, Schmerzen, Depressionen und kognitive Einschränkungen. Ebenso sollten angesichts der oft über viele Jahre erforderlichen Behandlung mit immunmodulierenden Substanzen die Studienteilnehmer länger beobachtet werden, um mehr Erkenntnisse über wesentliche Folgekomplikationen und Nebenwirkungen zu erhalten.

Empfehlungen der Experten

„Wenn wir die Studien in Zukunft so konzipieren, dass sie sich stärker an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren, erhalten wir Studienergebnisse, die uns eher in die Lage versetzen, die Patientinnen und Patienten zielgerichteter und individualisiert medizinisch zu versorgen“, betont Friedemann Paul, Wissenschaftlicher Direktor des Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Einrichtung von Charité und MaxDelbrück-Centrum für molekulare Medizin (MDC). „Mit unseren Empfehlungen wollen wir einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit MS leisten“, sagt Sinje Gehr, Projektleiterin der Charité MS Initiative. Für die Betroffenen haben bestimmte Symptome und Krankheitsfolgen eine sehr hohe Bedeutung. Daher ist es wichtig, die Patientenperspektive auch in Studien mithilfe von Patienten berichteten Endpunkten (sogenannte „patient-reported outcomes“, PROs) zu erheben. „Wenn in Studien keine Daten zu Symptomen und zur Lebensqualität erhoben werden, dann ergibt sich aus diesen kein vollständiges Bild zum Nutzen eines Arzneimittels“, erklärt Thomas Kaiser, Ressortleiter Arzneimittel vom QWiG. Er fügt hinzu: „Viele dieser Symptome könnten und sollten zukünftig mit Hilfe international etablierter und validierter Patientenfragebögen erfasst werden.“

Originalarbeit

*Gehr S, Kaiser T, Kreutz R, Ludwig WD, Paul F: Suggestions for improving the design of clinical trials in multiple sclerosis — results of a systematic analysis of completed phase III trials. EPMA Journal (2019) 10: 425.

doi.org/10.1007/s13167-019-00192-z.

Quelle: PI Charite, 9.12.2019

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